Freitag
22
Hans Thie
02.06.2006
Mythos Kostenexplosion
HARTZ IV
Um die
Missbrauchsdebatte anzuheizen, ist jede Phantomzahl willkommen
Das ist der Gipfel der Idiotie
und der moralischen Verkommenheit, denkt man sich in letzter
Zeit häufiger, wenn wieder ein hochbezahlter Kommentator, Politiker oder
Verbandsfunktionär
seine Geistesarmut und seine Menschenverachtung präsentiert. Und doch
geht´s immer noch
einen Schritt weiter. Ob Arbeit arm und Hartz IV reich macht, fragte am
vergangenen Sonntag
Sabine Christiansen im Titel ihrer Sendung. Irgendwann wird diese Frau, die
30.000 Euro für
90 Minuten miserabler Moderation kassiert, den finalen Tabubruch wagen:
"Spargelcamp mit
warmer Mahlzeit statt Hängematte mit ALG II?"
Auslöser der aktuellen Hysterie ist ein Phantom: die angebliche Kostenexplosion
im Bereich der
"Grundsicherung für Arbeitsuchende", wie Hartz IV offiziell genannt
wird. Der Bund habe statt der
ursprünglich veranschlagten 14 Milliarden Euro nunmehr knapp das Doppelte
zu zahlen, behaupten Politiker
der Union, um eine Generalrevision der Arbeitsmarkpolitik einzuleiten. Dass die
noch aus Clements Zeiten
stammende und propagandistisch verschlankte Ausgangsschätzung von vornherein
nichts mit der Realität
zu tun hatte, wird wissentlich verschwiegen. Um sein Projekt, die Zusammenlegung
von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe, in günstigem Licht erscheinen zu lassen, hatte Clement sowohl das
absehbare Niveau der
Arbeitslosigkeit als auch die zu erwartende Zahl berechtigter Anträge klein
rechnen lassen.
Wie abwegig dieses Verfahren war und ist, hat ausgerechnet Gerd Andres, der nach
Clements Abgang zuständiger
Staatssekretär für Arbeitsmarktpolitik geblieben ist, bereits Anfang Mai in
einer "Unterrichtung" der Bundesregierung
bestätigt: Man müsse bei einer Bewertung des neuen Systems Hartz IV berücksichtigen,
"dass auch in den alten
Systemen aufgrund der ungünstigen Entwicklung des Arbeitsmarktes die
Ausgabenbelastung ... zugenommen hätte.
" In der Summe von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe waren 2004, also im
letzten Jahr der alten Systeme, bereits
Kosten von 26,6 Milliarden Euro entstanden. Ohne einen Wechsel zu Hartz IV hätte
sich diese Zahl auf 31,3 Milliarden
erhöht, schreibt Andres. Bei einer vorsichtigen Abwägung der zu erwartenden
Kosten im neuen System wäre also
bereits Clement in etwa auf die Dimension gekommen, die heute "als nicht
hinnehmbare Ausgabenverdoppelung"
missbraucht wird.
Geringfügig erhöhte Zahlungen sowohl des Bundes (ALG II) als auch der Kommunen
(Unterkunft und Heizung), die es
in den ersten Monaten des Jahres 2006 tatsächlich gegeben hat, mögen für
Politiker, die sich eine erhebliche
Haushaltsentlastung durch Hartz IV versprochen hatten, enttäuschend sein. Aber
als Ausgangspunkt einer neuen
grundsätzlichen Arbeitsmarktdebatte sind sie lächerlich, zumal die Ausgaben
der Bundesagentur für Arbeit
(Arbeitslosengeld I und aktive Arbeitsförderung) gegenwärtig so stark sinken,
dass insgesamt weniger an die
Gesamtheit der Arbeitslosen gezahlt wird. Spätestens wenn die bereits
beschlossenen Maßnahmen, wie etwa der
"Verbleib und die Rückführung von hilfebedürftigen jungen Erwachsenen in
die elterliche Wohnung" oder die von
den Wohlfahrtsverbänden als "unpraktikabel und verfassungsrechtlich
bedenklich" kritisierte "Beweislastumkehr
bei eheähnlichen oder partnerschaftsähnlichen Lebensgemeinschaften" zu
wirken beginnen, verwandelt sich auch
Hartz IV in einen Entlastungsfaktor. Dass sich aus all diesen fiskalischen und
disziplinarischen Übungen keinerlei
Perspektive für die Langzeitarbeitslosen ergibt, stört offenkundig weder die
Union noch die SPD. Die Überflüssigen
müssen billiger werden - das ist und bleibt die gemeinsame Linie, die sich mit
Phantomzahlen und Missbrauchs-
debatten am besten verkaufen lässt.