Seit
1999 lässt Kemmler Schirme in China produzieren. Kleine Kunstwerke sind das,
bedruckt mit Aquarellen seiner Frau Hannelore, die mit lockerem Strich Städte
porträtiert. Erst Tübingen, dann Reutlingen, später Stuttgart und Ulm es
kommen laufend neue Kunden hinzu. Bis zu 100 000 Stadtschirme importiert der
63-Jährige inzwischen pro Jahr. In seinem Gomaringer Verlag stehen aktuell
sieben Leute auf der Gehaltsliste, vor ein paar Jahren waren es zwei.
Großen Erfolg hat auch das chinesische Ehepaar Wu Chuntao und Chen Guidi. Mit
seiner »Studie über Chinas Bauern« ist den beiden ein Bestseller gelungen.
Sieben Millionen Exemplare sind im Reich der Mitte im Umlauf, im Oktober
letzten Jahres wurden die Autoren in Berlin mit dem mit 50 000 Euro dotierten
Weltpreis für Reportageliteratur ausgezeichnet, dem »Lettre Ulysses Award«.
Begründung der Jury: »Der brisante Text ist die erste tiefer gehende
Untersuchung der Lebensumstände von rund 900 Millionen chinesischer Bauern.«
Allerdings: Offiziell geht die Studie in der Volksrepublik nicht über den
Ladentisch, nur unter der Hand, als Raubkopie. Das so viel gepriesene Buch
ist im derzeit so viel gepriesenen China nämlich verboten. Denn Wu und Chen
stellen darin die dunkle Seite des Landes dar; das Elend, über das man lieber
schweigt. Und über diese Indiskretion sind Chinas Machthaber alles andere als
erfreut.
China, das Wunderland. Kein Unternehmen, das es nicht ins Reich der magischen
Wachstumsraten von rund neun Prozent zieht. Die Großen sind schon da; mit
Daimler-Chrysler hat im Dezember auch der letzte deutsche Automobilkonzern
nahe Peking eine Produktionsstätte errichtet. Aber auch der Mittelstand wird
mehr und mehr infiziert. Laut Petra Brunner von der Industrie- und
Handelskammer Reutlingen sind von den 2 000 bei ihr registrierten Firmen, die
Import und Export betreiben, schon rund 300 mit den Chinesen im Geschäft.
Vom Boom profitiert auch das chinesische Volk. Davon ist Zheng Jun überzeugt,
der vor 20 Jahren mit seiner deutschen Frau von Nanying nach Reutlingen und
später nach Köln zog. Dort gründete er eine Firma, die Reisen chinesischer
Besuchergruppen nach Europa organisiert. Bei seinen jährlichen Besuchen in der
alten Heimat stellt er fest: »Den jungen Leuten dort geht es heute genau- so
gut wie den Leuten hier in Deutschland. Da ist kein Unterschied mehr.«
»Die Wohlstandskluft ist inzwischen sogar größer als in Indien«
»China ist groß«, bemerkt dazu nüchtern Gunter Schubert, Professor am Seminar
für Sinologie und Koreanistik der Universität Tübingen. Der Boom spiele sich
vor allem an der Ost- und Südostküste ab, »hier findet man die Bau-Kräne,
hier sind die prosperierenden Millionenstädte«. Die anderen Regionen des
Riesenreiches sind oft sehr arm, die wenigen Städte veraltet.
China, das Elendsland. In den »anderen Regionen« lebt die ländliche
Bevölkerung. Drei Jahre lang bereiste das Schriftstellerpaar Wu und Chen das
»Bauernland«, wollte wissen, wie es den Brüdern und Schwestern dort geht. Sie
sahen unglaubliches Leid. Die erschreckendste Erkenntnis dabei: Es handelt
sich nicht um einzelne Schicksale. Sondern für 900 Millionen Chinesen, also
zwei Drittel des Volkes, gehören bittere Armut, Gewalt durch örtliche
Despoten und absolute Rechtlosigkeit zum Alltag.
Die zweite erschreckende Erkenntnis: Der weltweit bewunderte wachsende
Wohlstand der Städter baut auf dem Rücken der Bauern auf. Sie verdienen ein
Sechstel dessen, was der Shanghaier oder Pekinger verdient, bezahlen laut
»Süddeutsche Zeitung« aber rund vier Mal so viel Steuern. Die
Landbevölkerung, das mussten Wu und Chen erkennen, hat vom
Wirtschaftswachstum nicht profitiert, vielen geht es sogar viel schlechter.
Der Preis für die Ernte ist gesunken, Schule und Arzt kosten plötzlich Geld,
korrupte lokale Kader pressen die Landwirte aus. Das kommunistische China, so
erklärte jüngst Chinas Akademie für Sozialwissenschaften, gehört zu den
ungerechtesten Nationen der Welt; die Wohlstandskluft ist inzwischen sogar
größer als in Indien.
Von alledem bekam Willi Kemmler nichts zu sehen, als er 1999 zum ersten Mal
in der Glitzermetropole Hongkong landete, um Kontakte ins benachbarte Shenzen
zu knüpfen. Eher unfreiwillig trat er seine Reise in den fernen Osten an, »eigentlich
wollte ich in Deutschland produzieren lassen«. Mit Erstaunen musste der
Gomaringer Verlagschef dann jedoch feststellen, dass es in ganz Europa keine
einzige Firma mehr gab, die Schirme herstellt. »Jedes dritte Handy kommt aus
China, jeder zweite Schuh, 80 Prozent der Socken und alle Schirme«, hätte
Petra Brenner von der IHK Reutlingen ihm sagen können.
Willi Kemmler schüttelt heute noch ungläubig den Kopf: »Wir hatten Null
Kenntnisse in dieser Branche.« Entsprechend abenteuerlich gestaltete sich der
erste Auftritt des schwäbischen Geschäftsmannes in der Volksrepublik. Einen
jungen Chinesen, Student an der Tübinger Uni, nahm er als Dolmetscher mit,
der gleich einmal schier unüberwindbare Probleme mit der Einreise bekam.
Sechs Jahre später über zehn Lieferanten arbeiten mittlerweile für Kemmler
sind die Abwicklungen »perfekt eingespielt«.Was aber sah Willi Kemmler damals
in Shenzen? »Na, das hat mir auch nicht alles so hundertprozentig gefallen«,
erklärt er. Die Produktion erinnerte ihn an die Bundesrepublik der 50er
Jahre, »da wurde kein Gedanke an Umweltschutz verschwendet«. In 15 Jahren
aber werden die Chinesen viel nachgeholt haben, glaubt der Gomaringer.
Das meiste aber, was Kemmler im China der Städte zu sehen bekam und bekommt,
gefällt ihm. Ausgesprochen gut sogar. »Aus Prinzip« schaue er sich jede
Produktionsstätte genau an, bevor er einen Auftrag vergebe. Und da strahlten
sie ihn an: viele hundert Gesichter in einem großen Saal; Näherinnen,
Zuschneiderinnen, Drucker, junge Menschen, alle hoch motiviert.
Ein klein wenig wundert sich Willi Kemmler schon über diese durch und durch
positive Einstellung: »Eigentlich müssten die doch deprimiert sein.« Nur
einen Tag im Monat haben manche Mitarbeiter frei, Sechs-Tage-Wochen und
Zehn-Stunden-Tage sind die Regel, viele wohnen in primitiven Baracken direkt
neben der Fabrik, zu Dutzenden in einem Raum untergebracht. »Ich frage mich
oft, was die eigentlich für einen Lebenssinn haben«, sagt die Managerin eines
hiesigen Bekleidungsunternehmens. Aber auch sie registriert, was Willi
Kemmler registriert: »Die Menschen sind glücklich, dass sie arbeiten dürfen.«
»Keiner redet über politische Verfolgung, Folter und Todesurteile«
Das Elend auf dem Land bleibt nicht nur den ausländischen Geschäftsleuten
verborgen. Auch die Chinesen in den Zentren sind weitgehend ahnungslos. Wie
sollte es anders sein: Reisen durchs Riesenreich sind nicht üblich, in
manchen Regionen gar nicht erlaubt. Wohnortwechsel gibt es so gut wie nie, es
gilt nach wie vor die Residenzpflicht. »Nur an seinem Geburtsort ist man ein
vollwertiger Bürger«, erklärt Professor Schubert von der Uni Tübingen. Wu
Chantaos und Chen Guidis Reportage sorgte daher für ungläubiges Staunen unter
den Landsleuten, für tiefe Betroffenheit.
Gar nicht erstaunt ist hingegen Dirk Pleiter, China-Experte von Amnesty
International in Berlin. Die Volksrepublik werde derzeit ausschließlich als
»sehr beeindruckend« wahrgenommen, über die Schattenseiten rede keiner. Zum
Beispiel über die willkürliche Inhaftierung von politisch engagierten
Menschen, über die Verfolgung von religiösen Minderheiten, über das Verbot
von Gewerkschaften. Oder über die Menschen, die in den gefährlichsten
Bergwerken der Welt arbeiten: Über 6 000 Kumpel kamen allein im letzten Jahr
ums Leben. Der erwachte Riese zahlt einen hohen Preis, um seine Gier nach
Energie zu stillen.
Schreiben könnte man laut Pleiter auch über die schätzungsweise 100000
Millionen Wanderarbeiter, die die Not aus den Dörfern illegal in die Stadt
treibt, wo sie für noch weniger Geld als die ohnehin schon billigen
Arbeitskräfte auf den Baustellen malochen: unter katastrophalen Bedingungen,
ohne soziale Absicherung, ohne medizinische Versorgung.Pressefreiheit?
Amnesty beobachtet einen Rückschritt; selbst das Internet werde gefiltert.
Eine unabhängige Justiz? Nein. Folter? Nimmt zu. China ist zudem das Land mit
den meisten Todesurteilen »mehr als in allen Ländern der restlichen Welt
zusammen«. Für 68 Delikte gilt die Höchststrafe, auch für schweren Diebstahl,
Steuervergehen und Korruption. Nach offiziellen Berichten werden 1 600
Menschen pro Jahr hingerichtet, »aber es gibt Aussagen eines chinesischen
Rechtswissenschaftlers, dass es 10 000 sind«, betont Pleiter. Er warnt: »Man
darf sich nicht auf die wirtschaftliche Entwicklung verlassen. Man darf nicht
glauben, dass sich dadurch automatisch die Menschenrechte bessern. Die
letzten 20 Jahre sprechen dagegen.«Eine pessimistische Einschätzung, die der
Tübinger Sinologie-Professor Schubert nicht teilt. Menschenrechte? Das ist
auch eine Frage der Perspektive, findet er. Nehme man den Begriff »statisch«,
dann habe China in der Tat ein »enormes Defizit«. Habe man eine »dynamische
Auffassung«, dann jedenfalls erkenne er einen »Zugewinn«. Vieles, was im
Argen liege, habe Chinas Regierung erkannt; sie bemühe sich um eine
langfristige Umverteilung in die armen Regionen des Zentrums und des Westens.
Und um ein Netz der sozialen Sicherung.
Auch Willi Kemmler glaubt an die goldene Zukunft des Milliardenvolkes. Bis
dahin lässt er sich anstecken vom Fleiß und der hervorragenden Arbeit der
Chinesen: »Ich bin ein begeisterter Wettbewerber in der Zwischenzeit. Man
muss einfach immer etwas besser als der andere sein. Das ist das Motto in
Zeiten der Globalisierung.« Besser als andere sind Kemmler und seine
Mitarbeiter: Zum deutschen Marktführer bei Stadtschirmen haben es die
Gomaringer gebracht. Und das ganz ohne Sieben-Tage-Woche? Willi Kemmler
lacht: »Bei uns ist Freitagnachmittag Schluss.« Und das, so verspricht er,
soll auch so bleiben. (GEA)
|