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Hamburger
Abendblatt, 14. Juli 1997 Droht
der Gesellschaft ein zweites Weimar? Im
Umgang mit Arbeitslosen zeigt ein Vergleich zwischen heute und der Zeit von Ende
der 20er Jahre bis zur Machtübernahme Hitlers deutlich: Damals wie heute sind
es vor allem die kleinen Leute, denen der Staat in der Krise am tiefsten in die
Tasche greift. Für
Hamburgs DGB-Chef Erhard Pumm sind die Parallelen alarmierend. Wie
sich die Lage dramatisch zuspitzte Bonn
[Berlin] ist zwar nicht Weimar. Dennoch gibt es bemerkenswerte Ähnlichkeiten in
der Art und Weise, wie die Politik mit den arbeitslosen Menschen umgegangen ist
und noch umgeht. Ein Vergleich der Zeit von Ende der 20er Jahre bis zur Machtübernahme
Hitlers mit der heutigen zeigt eines deutlich: Damals wie heute waren und sind
es vor allem die kleinen Leute, denen der Staat in der Krise am tiefsten in die
Tasche greift. Bei denen, die ohnehin wenig haben, wird am heftigsten gespart. Für
Hamburgs DGB-Chef Erhard Pumm sind die Parallelen alarmierend. Schließlich sei
dem fiskalischen Erfolg der Reichsregierung die politische Katastrophe der
Nazi-Diktatur gefolgt. 1927
vom Reichstag eingeführt, sei die Arbeitslosenversicherung in wenigen Jahren
bis zur Wirkungslosigkeit verändert worden. Nur noch etwa 40 Prozent der
registrierten 5,6 Millionen Arbeitslosen hätten 1932 Anspruch auf finanzielle
Unterstützung gehabt. Der von der Reichsregierung betriebene Rückzug aus der
Arbeitsmarktpolitik habe zwar dem Staatshaushalt genützt, am Ende jedoch ein
soziales Debakel hinterlassen. Auch
wenn die sozialen Sicherungssysteme von heute um ein Vielfaches besser greifen:
Vieles von dem, was über die letzten Jahre der Weimarer Republik bekannt ist,
mutet höchst aktuell an. 3.27
Millionen Arbeitslose gab es im Deutschen Reich im Winter 1928/1929, und ihre
Zahl stieg rasant an: auf 3,4 Millionen 1930 und 6,1 Millionen 1932. Trotz
wachsender Arbeitslosigkeit stieg das Produktionsvolumen bis 1929 weiter an. Dem
rückläufigen Konsum im Inland standen zumindest vorübergehend Zuwächse beim
Export gegenüber. Doch die Talfahrt hatte längst begonnen: Die Einnahmen der
öffentlichen Hand begannen zu sinken, die krisenbedingten Mehr-ausgaben
stiegen. Die
Leistungen wurden zurückgeschraubt 1929
wurden die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zurückgeschraubt. Die
Zahlung hörte nach 36 Wochen auf, Jugendliche unter 21 und Saisonarbeiter
wurden ganz ausgeschlos-sen. 1929
erschien auch ein Artikel in der Verbandzeitschrift der Arbeitgeber, der stark
an die heutige Diskussion über Sozialmissbrauch als Wurzel allen Übels
erinnert. Dort hieß es: „Durch den Ausbau der Sozialversicherung wird auch
der wenige Skrupellose, Dreiste und Arbeits-scheue in die Lage versetzt, sich
auf Kosten des Gewissenhaften und Arbeitsamen zu bereichern. So wird unser
Wohlfahrtswesen und die Arbeitslosenversicherung vielfach zu einer Prämie für
die Trägen, Arbeitsscheuen und Gewissenlosen.” ______________________________________________________________________________
Aktuelle
Vergleiche: 18.
August 1997: „Der
Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), Hundt,
hat gefordert, Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen und zeitlich zu
befristen. Die
jetzige Möglichkeit zum Bezug von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe verführe zum
Aus-ruhen in der „sozialen Hängematte ” sagte Hundt der neuen Osnabrücker
Zeitung.” 20./21.
April 2000: Weniger
Geld für Arbeitslose? - Der
Sozialstaat auf dem Prüfstand „Zur
Senkung der Arbeitslosigkeit kann nach Einschätzung des Chefs des Kieler
Instituts für Weltwirtschaft, Siebert, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
beitragen. Damit entstehe für Erwerbslose ein Anreiz, wirklich Arbeit zu
suchen. Zudem sollte das Arbeitslosengeld wie in den achtziger Jahren nur noch
zwölf statt derzeit 32 Monate gezahlt werden und die Sozialhilfe für Menschen
im arbeitsfähigen Alter gekürzt werden. Siebert fordert zudem Einsteigerlöhne
für Arbeitslose, die etwa 20 Prozent unter dem vor-geschriebenen Tarif liegen könnten.” 6.
April 2001 / Bildzeitung: Gerhard Schröder / Bundeskanzler: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft! Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden. Das ist richtig so. Ich glaube allerdings, dass die Arbeitsämter die entsprechenden Möglichkeiten noch konsequenter nutzen können.“ ______________________________________________________________________________ Von
dieser Missbrauchsdiskussion ausgehend schlug die Vereinigung der deutschen
Arbeitge-berverbände im Mai 1929 vor, den Rechtsanspruch auf
Versicherungs-Leistungen durch die Einführung einer Bedürftigkeits-Prüfung
sowie eine Verschärfung der Zumutbarkeits-Regelung zu ersetzen. Beitragssatz
stieg wie heute auf 6,5 Prozent Im
August 1930 wurde der Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung auf 4,5 und
im Oktober 1930 auf 6,5 Prozent (wie heute) erhöht. Im April 1931 wurde der
Haushalt der Reichsanstalt für Arbeit (RA) vom Reichshaushalt abgekoppelt.
Fortan musste die RA die steigenden Ausgaben ausschließlich aus eigenen Mitteln
bezahlen. Weiterer
Leistungsabbau war die Folge: Die Zahlungen wurden nach Beschäftigungsdauer
diffe-renziert, die Karenzzeit (bis zur ersten Zahlung) auf bis zu drei Wochen,
die Sperrzeiten auf sechs Wochen ausgedehnt. Mitte
1931 wurde Jugendlichen unter 21 Jahren der Versicherungsanspruch ganz
gestrichen, ver-heiratete Frauen wurden ganz ausgesteuert, die Unterstützungs-Leistung
auf bis zwölf Prozent vom Bruttoeinkommen gesenkt, ein freiwilliger
Arbeitsdienst wurde eingeführt. 1932 kam die
Bedürftigkeitsprüfung, Unterstützungs-Leistung wurde auf sechs Wochen
begrenzt, danach gab es die sogenannte Krisenfürsorge. Die
starken Einschränkungen bei den Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung führten
zu der paradoxen Situation, dass sich die Zahl der Arbeitslosen von 1928 bis
1932 zwar verdrei-fachte, die Versicherung zugleich aber weniger in Anspruch
genommen wurde. Als Hitler die Macht ergriff, erhielten nur noch elf Prozent der
Arbeitslosen eine durchschnittlich um 46 Prozent gekürzte Zahlung. Auch
die Zahlungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) wurden immer weniger und
schließlich ganz eingestellt. Grund war unter anderem die Notverordnung vom 5.
Juni 1931, mit der ein freiwilliger Arbeitsdienst - vielfach in geschlossenen
Lagern - eingeführt wurde. Jugendliche sollten produktiv arbeiten. Allerdings
gingen sie kein Arbeitsverhältnis ein, sondern blieben Unterstützungsempfän-ger.
Damit ging reguläre Arbeit bei niedrigen Löhnen verloren. Obwohl der Zulauf
groß war, dachten Politiker schon 1932 daran, einen Zwangsdienst einzuführen.
Die Nazis griffen 1933 gerne darauf zurück. Scho „Eine
ernsthafte Gefährdung der Demokratie! ” Hamburger
Abendblatt: Sie warnen davor, dass die
derzeitige Arbeitsmarktpolitik zu Verhält-nissen führen kann, wie sie am Ende
der Weimarer Republik zur Errichtung der Nazi-Diktatur ge-führt haben. Erhard
Pumm: Immerhin gibt es einige
Parallelen zwischen der Regierungspolitik zum Ende der 20er Jahre und heute. Zum
Beispiel? Wie damals werden auch heute die Leistungen für Arbeitslose reduziert, obwohl die Zahl steigt. Und so wie die Reichsregierung 1930 die defizitäre Arbeitslosenversicherung zur Entlastung des Haushaltes sich selbst überließ, macht es auch heute die Bundesregierung. Sie will die Zuschüsse für die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit zurückfahren, um immer mehr Arbeitslose bezahlen zu können. Mit
welchen Folgen? Das
ist schlicht kontraproduktiv. Denn bei zunehmender Arbeitslosigkeit brauchen wie
mehr an aktiver Arbeitsmarktpolitik. Und
wo droht der Untergang der Demokratie? Wir
haben derzeit eine zersetzende Diskussion in Sachen Sozialstaat. Aber damit wird
nur von Mängeln der Wirtschafts- und Strukturpolitik abgelenkt. Was
läuft da falsch? Wir
brauchen mehr Ausbildung und Qualifizierung, zur Zeit läuft aber das Gegenteil.
Wir brau-chen die Entwicklung neuer Produkte, einen Technologie-Transfer, doch
die Politik befindet sich in all diesen Bereichen eher im Rückwärtsgang und
schwächt den Standort Deutschland. Das führt dazu, dass die Konkurrenzfähigkeit
deutscher Produkte leidet und dass wir Gefahr laufen, die Verlierer der
Globalisierung der Märkte zu werden. Mit
den politischen Folgen, dass die Arbeitslosigkeit noch weiter steigt, die
Leistungen beim Arbeitslosengeld noch weiter zurückgeht, der innere und der
soziale Frieden zerbrechen und damit eine ernsthafte Gefährdung für die
Demokratie eintritt. Ein
neuer Hitler? Es
muss nicht ein neuer Hitler sein, aber eine Veränderung des Systems schon. Wenn
der Karren erst mal ins Rutschen kommt, werden ihn vermutlich weder die
Gewerkschaften noch die derzeit in den Parlamenten vorhandenen Parteien
aufhalten können. Halten
Sie denn unsere Demokratie für so ungefestigt, dass sie so etwas nicht abwehren
könnte? Die
Demokratie unserer Republik ist zwar stabiler als die von Weimar. Aber die
Nagelprobe haben wir noch nicht bestanden. Ich frage mich: Was passiert in
diesem Land bei sechs Millionen Arbeitslosen? Sind
die heutigen viereinhalb Millionen nicht schon schlimm genug? Es
ist ganz dramatisch. Aber immer noch ruhig. Weil
die sozialen Sicherungssysteme das noch notdürftig zusammenhalten. Wenn sie das
bei weiterem Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht mehr können, verändert sich
die politische Lage grundlegend. Auf
Dauer sind aber auch die viereinhalb Millionen Arbeitslosen nicht zu
finanzieren. Es ist ja auch im höchsten Maße unproduktiv und politisch
unsinnig, Arbeitslosigkeit zu finanzieren statt Arbeit. Das hätte dann auch
positive Auswirkungen auf die Menschen, würde sie motivieren und zufrieden
machen. Interview:
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